Ich hadere schon längere Zeit mit dem Begriff „klimaneutral“. Bestenfalls müsste er „neutral hinsichtlich der gängigsten Treibhausgase“ ergo „treibhausgasneutral“ heißen, dass ist aber nicht wirklich eingängig. Woher kommen die Bedenken und wohin geht die Reise? Das lesen Sie im neuen #RestartThinking Blog.
Veränderung und Verbesserung sind der Kern unseres Unternehmens und die Themen machen auf vor uns selbst nicht halt. Daher prüfen wir die Blogbeiträge von Zeit zu Zeit. Die folgenden Überlegungen verfolgen mich schon einige Zeit: Ist „klimaneutral“ wirklich zutreffend oder wie geht es besser?
Die Definition von „klimaneutral“
Der Weltklimarat (IPCC) bietet eine Definition über Klimaneutralität:
Climate neutrality: Concept of a state in which human activities result in no net effect on the climate system. Achieving such a state would require balancing of residual emissions with emission (carbon dioxide)removal as well as accounting for regional or local biogeophysical effects of human activities that, for example, affect surface albedo or local climate.
Was bedeutet das in der Praxis?
Das mit der Erfassung und Reduktion der menschgemachten Treibhausemissionen ist schon ein ziemlicher Aufwand, aber machbar. Dazu komme ich etwas später nochmals. Zum Berechnen der Treibhausgase verwendet man den GHG Procotol Standard. Dieser listet neben Kohlendioxid auch die anderen sechs häufigsten Treibhausgase (Methan, Lachgas, fluorierte Kohlenwasserstoffe (HFCs, PFCs, SF6) und Stickstofftrifluorid (NF3)) auf, die berücksichtigt werden müssen. Weitere Gase können auf freiwilliger Basis angegeben werden.
Diese Gase müssen entweder gleich von Anfang an vermieden werden. Das passiert, indem man auf fossile Energieträger verzichtet oder die Produktionsprozesse entsprechend umstellt. Oder die Gase müssen nachher durch entsprechende Technologien oder Maßnahmen wieder kompensiert werden. Dieses Thema werden wir auch etwas später noch betrachten.
Menschgemachte Einflüsse aufs Klima
Doch wie sieht es mit den weiteren menschgemachten Einflüssen (regional or local biogeophysical effects of human activities) aus? Nehmen wir das Beispiel eines Unternehmen, welches auf einer freien Grünfläche eine neue Halle mit entsprechender Peripherie errichtet. Dann ergeben sich u.a. folgende Auswirkungen auf die Umwelt und das Klima:
- Bodenversiegelung. Die Versickerungsfähigkeit des Bodens ist beeinträchtigt. Bei großen Bauwerken können zudem die wasserführenden Strukturen im Boden gestört werden.
- Änderung Albedo (= das Rückstrahlverhalten des auftreffenden Lichts): Die bebauten Flächen haben ein anderes Rückstrahlverhalten als Grünflächen. Diese Strukturen und vor allem die dazu nötige Infrastruktur (Straßen, Parkflächen) haben einen niedrigeren Albedo, strahlen weniger Licht zurück, nehmen daher die Strahlungswärme mehr auf und erhitzen sich damit mehr als die ursprünglichen Grünflächen.
- Wenn das Gebäude dann noch groß genug ist und ungünstig steht, kann es sogenannte Frischluftschneisen beeinflussen. Das sind freie Gebiete, die den Luftaustausch mit dem Umland möglich machen. Besonders in Städten wird der Luftaustausch immer wichtiger, da sich diese Gebiete mehr aufheizen.
An diesem kleinen Beispiel sehen Sie schon, dass diese Auswirkungen auf das Klima schwer zu überblicken und fast gar nicht ausgewiesen sind. Daher bin ich mit dem Begriff „klimaneutral“ nicht glücklich.
Wie erstellt man eine Treibhausgasbilanz?
Wenn man die Treibhausgase berechnen möchte, verwendet man den weltweit gültigen GHG (Greenhouse Gas) Procotol Standard. Der Standard gibt eine Anleitung, wie oben genannten Gase berücksichtigt werden müssen. Bei kleinen Unternehmen, wie unserem ist das eher übersichtlich. Bei großen multinationalen Konzernen mit verzweigten Beteiligungen und Standorten, wird das schon spannend.
Einer der wesentlichen Punkte des GHG Protocol Standards sind die sogenannten Scopes. Es werden verschiedene Emissionsbereiche (Scope 1-3) betrachtet.
Scope 1 | Treibhausgasemissionen aus Verbrennungsprozessen im Unternehmen (eigener Fuhrpark, Heizungen, etc.) |
Scope 2 | Treibhausgasemissionen aus dem Bezug von Strom, Wärme, Kälte oder Dampf (also Energie, die jemand anderer für das Unternehmen erzeugt) |
Scope 3 | Treibhausgasemissionen aus allen vor- und nachgelagerten Prozessen (kurz gesagt, alles, was sonst noch bleibt zB Produktionsmaterialien, Betriebsstoffe, Pendeln der Mitarbeitenden, Firmenreisen, Nutzung der erzeugten Produkte, Entsorgung, etc.) |
Die Scope 1 und Scope 2 Emissionen müssen laut GHG Protocol Standard immer berechnet und berichtet werden. Werden diese Emissionen vermieden, also entweder tatsächlich reduziert (worauf der Hauptfokus gelegt werden sollte) oder kompensiert, wäre man nach bisheriger Praxis klimaneutral.
Dieser recht lasche Umgang hinsichtlich „klimaneutral“ verändert sich:
- Initiativen, wie etwa die ScienceBased Targets Initiative (SBTi), betrachten auch bereits die Scope 3 Emissionen mit.
- Bei Berichtsstandards, wie dem neuen europäischen Nachhaltigkeitsberichtsstandard ESRS (E1-6), sind die Scope 3 Emissionen auch zwingend zu betrachten.
- Zudem kommt es zu rechtlichen Konsequenzen, wenn unlauterer Wettbewerb mit missverständlichen Aussagen betrieben wird. Beispiele dazu gibt es etwas später.
Vorschläge für bessere Bezeichnungen anstatt „klimaneutral“
Auch wir haben hier im #RestartThinking Blog den Begriff „klimaneutral“ viele Male verwendet.
Klimaneutralität muss Chef:innensache sein
Warum sollten auch KMUs klimaneutral werden?
Nachhaltigkeitsbericht – auch bei KMUs
Die Blogartikel bleiben so stehen, wir werden aber von nun an den Begriff differenzierter verwenden. Derzeit arbeiten wir mit den Begriffen „treibhausgasneutral“ und „100 % ohne fossile Energieträger“, wenn es um Bereiche wie Stromerzeugung, Heizung oder Mobilität (Scope 1 und 2) geht. Damit soll unser Aufwand und das Ergebnis konkreter dargestellt werden. Denn wir haben uns schon vor Jahren auf den Weg der Klimatransformation gemacht und in Technologien investiert, die im Betrieb kein CO2 oder andere Treibhausgasse verursachen. Wir möchten außerdem nochmals betonen, dass die Dekarbonisierung durch tatsächliche Maßnahmen und nicht durch den Kauf von Zertifikaten erreicht wurde.
Irgendwie habe ich aber das Gefühl, dass sich da auch in Zukunft noch was tun wird 😊. Wenn Sie andere Vorschläge haben, freuen wir uns sehr über Ihre Ideen! Schicken Sie uns einfach eine kurze Nachricht.
Aber warum ist das Bewusstsein über „Klimaneutralität“ überhaupt wichtig?
Es ist bekannt, dass Kund:innen tendenziell bereit sind mehr für ein Produkt mit guter Umweltbilanz auszugeben. Gefühlt ist heutzutage schon fast alles „klimaneutral“. Teilweise findet man sogar irreführende Aussagen, wie „klimapositiv“. Das führt dann zu Gerichtsfällen, wo Konkurrenten einander wegen Irreführung geklagt haben.
Hier ist besonders der Reinigungsmittelhersteller Werner & Mertz, zu dem auch die Marke „Frosch“ gehört, zu nennen. Das Unternehmen geht gegen irreführende Werbung von Marktbegleitern konsequent gerichtlich vor.
Im November 2022 gab es den ersten Aufschlag. Werner & Mertz haben den Konkurrenten Sonett geklagt, da sich Sonnet als „klimaneutrales Unternehmen“ bezeichnete. Nach Meinung des Klägers war die Bezeichnung irreführend, da bei der Ermittlung des CO2-Fußabdruckes Emissionen im Scope 3 ausgeklammert wurden. Sonett wurde von Climate Partner als „klimaneutrales Unternehmen“ zertifiziert. Um diese Bezeichnung zu erhalten, war es nicht notwendig, alle dem Unternehmen zugehörigen oder durch seine Tätigkeit verursachten Emissionen zu berücksichtigen. Man berief sich damals auf die gängige Praxis aus dem GHG Procotol Standard. Werner & Mertz bekam im Eilverfahren recht, auf der Sonett Webseite ist daher der Begriff „klimaneutral“ nicht mehr zu finden.
Im Januar 2023 legten Werner & Mertz nochmals nach und klagten das Unternehmen Hygreen für deren Essigreiniger. Das Produkt wurde als „klimaneutral“ sowohl auf der Verpackung als auch auf der Webseite beworben. Auch Hygreen wurde von Climate Partner zertifiziert. Hygreen musste vor Gericht einräumen, dass nicht alle Emissionen entlang des Produktlebenszyklus erfasst wurden. Bemerkenswert an dem Urteil ist allerdings, dass laut Landgericht Stuttgart „die einschränkungslose Werbung mit Klimaneutralität unzulässig ist, wenn die vermeintliche Neutralität ausschließlich durch den Kauf von CO2-Zertifikaten erreicht wird.“
Das ist ein Paukenschlag, denn bis dato war es gängige Praxis Emissionen durch den Kauf irgendwelcher Zertifikate beispielsweise aus Forstprojekten „klimaneutral“ zu bekommen. Zum Thema Kompensation und Zertifikate erscheint demnächst eine #RestartThinking Fokus Folge, denn das Thema ist sehr spannend.
Der nächste Schlag gegen „klimaneutral“ – Green Claims Directive
Neben Klagen durch Wettbewerber geht auch der Gesetzgeber gegen diesen Wildwuchs vor. Im Rahmen der „Green Claims Directive“ der EU kommen zukünftig freiwillige umweltbezogene Werbeaussagen auf den Prüfstand. Wenn man solche Aussagen verwenden möchte, müssen die Daten über eine Lebenszyklusanalyse berechnet und die Ergebnisse von akkreditieren Prüfstellen zertifiziert werden. Erst dann darf man mit den Umweltaussagen werben. Damit wird verhindert, dass Werbeaussagen wie „bienenfreundliches Produkt“ Verbraucher:innen in die Irre führen, nur weil am Dach des Firmengebäudes ein paar Bienenstöcke aufgestellt wurden.
Fazit: Ehrlich währt am längsten
Wie man sieht, ernsthafte Interaktion und Kommunikation mit Kund:innen, Mitarbeitenden und anderen Stakeholdern zahlt sich aus. Unter dem Motto: „Green instead of greenwashing“. In dem Thema Klimatransformation stecken riesige Potentiale, beispielsweise hinsichtlich Ressourcenschonung, Kreislaufwirtschaft, geringerem Energieverbrauch und der Produktion von erneuerbaren Energien, dem Verzicht auf umweltbelastende Stoffe (z.B. PFAS, Mikroplastik) und vielem mehr. Die Chancen sind da, nutzen wir sie endlich!
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#RestartThinking
Veränderung. Denken. Können.
Herzliche Grüße
Marlene Buchinger
Marlene Buchinger, MSc.
Expertin für Klimatransformation und Nachhaltigkeit, Projektentwicklerin und Problemlöserin
Ich begleite Sie bei Fragen und konkreten Projekten im Bereich Klimatransformation und Nachhaltigkeit. Von der Wissensvermittlung bis zur Umsetzung vor Ort, Buchinger|Kuduz bietet Ihnen maßgeschneiderte Unterstützung.