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Ich bin schlecht fürs BIP

Ich bin schlecht fürs BIP

Der Erfolg von Gesellschaften wird heute noch immer am Bruttoinlandsprodukt (BIP) und dessen Wachstum festgemacht. Das ist fatal, denn Umwelt- und soziale Schäden bleiben dabei unberücksichtigt. Zudem stellen Greentech und Kreislaufwirtschaft die bisherigen Logiken auf den Kopf. Ein Blick in die Zukunft…

Der verzerrte Blick auf die Wirtschaftlichkeit

In meiner täglichen Arbeit im Bereich der Klimatransformation und Nachhaltigkeit in Unternehmen passiert, wie im Film „Täglich grüßt das Murmeltier“, immer Folgendes: Verbesserungen in Form von beispielsweise Energieeinsparungen oder -effizienzprojekten sowie der Ausbau erneuerbarer Energie müssen sich immer im Vergleich zu monetären Werten „rechnen“. Dabei werden aber externe Effekte, wie die Umweltzerstörung durch das Verbrennen fossiler Energieträger, die auch in monetären Werten ausgedrückt werden können, nicht berücksichtigt. Das ist so ziemlich überall gleich.

Schlimm wird es, wenn sich die Projekte in zwei oder drei Jahren aufgrund irgendwelcher interner ROI-Vorgaben rechnen müssen. Sehr geehrte Führungskräfte, das ist Schwachsinn, dann dürfen Sie auch kein Gebäude bauen und vom Auto will ich gar nicht reden. Das rechnet sich nämlich nie. Egal, ich schweife ab. Es geht um den einseitig verzerrten Blick auf „Wirtschaftlichkeit“ und „wirtschaftlichen Erfolg“.

Wenn dann ein solcher Indikator für den Erfolg von allen Nationen weltweit herangezogen wird, ist Vorsicht geboten. Denn eine Zahl alleine sagt nichts aus. Kommen Sie mit auf eine Reise in die Vergangenheit und erfahren Sie wie es in Zukunft besser gehen könnte.

Der Ursprung (1)

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst die Produktion von Waren und Dienstleistungen im Inland nach Abzug aller Vorleistungen. Es ist in erster Linie ein Produktionsmaß. Das Bruttoinlandsprodukt errechnet sich als Summe der Bruttowertschöpfung aller Wirtschaftsbereiche zuzüglich des Saldos von Gütersteuern und Gütersubventionen.

Gabler Wirtschaftslexikon

Im 17. Jahrhundert gab es in Großbritannien schon Ideen um das Einkommen von Menschen und damit von Ländern zu beschreiben. Diese wurden vor allem von William Petty formuliert. Gut, Petty war als Großgrundbesitzer eher daran gelegen, die Rahmenbedingungen so zu legen, dass er und seinesgleichen möglichst wenig zahlen musste.

Bis zum 20. Jahrhundert gab es in dieser Hinsicht keine wesentliche Entwicklung. Durch den Börsenkrach im Jahr 1929 machte sich der junge britische Chemiker Colin Clark an die Vermessung der Gesellschaft. Clark war nämlich der Meinung, dass die Ökonomen das nicht hinbekämen. In den folgenden Jahren tingelte Clark durch Großbritannien, publizierte auf eigene Kosten und im Laufe des zweiten Weltkriegs wurde der Ökonom John Maynard Keynes auf Clark aufmerksam. Und hier wurde die Sache interessant: Um den Krieg zu finanzieren, sollte das Volkseinkommen geschätzt und eine „Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“ erstellt werden.

In etwa der gleichen Zeit wird über die gleiche Fragestellung in den USA nachgedacht. Simon Kuznets, Ökonom russisch-jüdischer Herkunft, wird beauftragt die Daten zu erheben. Diese Daten und Narrative rund um das „Wirtschaftswachstum“ fließen seit Präsident Roosevelt in die politische Kommunikation – besonders in Kriegszeiten – ein. In späteren Jahren wird aufgrund der wirtschaftlichen Vormachtstellung der USA das BIP weltweit als einer der Hauptindikatoren für Wachstum und damit für Wohlstand festgelegt.

Was sind die Probleme mit dieser Kennzahl?

In wenig entwickelten Nationen mag das BIP eine praktikable Messgröße sein, denn hier ist Wachstum meist mit Verbesserung verbunden. Wenn beispielsweise Schulen, Wasserversorgungssysteme oder andere Infrastruktur gebaut wird, zählt das zum BIP und bedeutet in dieser Logik „Wachstum“. Aber in vielen Anwendungsfällen versagt der Indikator:

  • Umweltkosten werden nicht berücksichtigt: Das BIP misst nur die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, berücksichtigt jedoch nicht die negativen Auswirkungen auf die Umwelt, wie Umweltverschmutzung oder Ressourcenverbrauch. Beispielsweise wäre die Zerstörung von Wäldern einmalig gut fürs BIP, weil das Holz und dessen Verarbeitung berechnet werden können. Langfristig ist die Abholung aber nachtteilig für die Menschen, denn der Faktor Lebensqualität findet im BIP keine Anwendung.  
  • Qualität und Art der produzierten Güter und Dienstleistungen: Das BIP berücksichtigt nicht die Qualität oder Art der produzierten Güter und Dienstleistungen. Es behandelt alle Ausgaben gleich, unabhängig davon, ob sie langfristigen Nutzen bringen oder nicht. Beispielsweise werden die Behandlung von Krankheiten zum BIP gezählt. Die Prävention dieser wäre aber schlecht für diese Kenngröße, ergo auch fürs Wachstum. Auch Investitionen in schädliche Produkte, wie Waffen, Alkohol oder Tabak, werden dem BIP zugerechnet. 
  • Informelle Wirtschaftstätigkeiten werden nicht erfasst: Tätigkeiten, wie Care Arbeit oder Freiwilligenarbeit, werden nicht berücksichtigt. Dadurch wird die wirtschaftliche Leistung systematisch unterschätzt. 
  • Verteilungseffekte werden nicht berücksichtigt: Das BIP sagt nichts über die Verteilung des Einkommens innerhalb einer Gesellschaft aus. Ein Land mit hohem BIP pro Kopf kann dennoch erhebliche Einkommensungleichheiten haben, was auf soziale Probleme hinweisen kann.

Der Fetisch des Wachstums

Achten Sie mal auf die Medienberichterstattung, Wachstum, bemessen am BIP, ist wie die heilige Kuh. Es ist das beliebteste Dogma des neoliberalen Kapitalismus. Doch wie sinnvoll kann ein solches Wachstum in einer Welt begrenzter Ressourcen sein? 

Selbst bei den SDGs (Sustainable Development Goals), den nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen, hat dieses Narrativ Eingang gefunden. Das Ziel 8 besagt:

Promote sustained, inclusive and sustainable economic growth, full and productive employment and decent work for all.

Dieses Ziel wird mit Unterzielen wie Arbeitslosenquote, Jugendarbeitslosigkeit oder Anzahl von Bankkonten kombiniert. Die Zukunft steht und fällt mir der Frage: Wie kann Wachstum nachhaltig sein? Wir haben es nicht geschafft das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln und dies ist bis auf weiteres nicht in Sicht.

Wir bei Buchinger | Kuduz sind der Meinung, dass Wachstum einer falscher Begriff ist. Wir sprechen gerne von Verbesserung und Transformation. Denken Sie beispielsweise an Investitionen im Bereich der Gesundheitsprävention. Diese Maßnahmen bedeuten zu Beginn einen Aufwand, gehen anschließend aber mit spürbaren Reduktionen einher. 

Ich bin schlecht fürs BIP

Spielen wir das BIP und das Wachstum anhand meines eigenen Beispiels durch:

BereichPersönlicher EinflussAuswirkung auf BIP und Wachstum
LebensstilIch ernähre mich gesund und treibe Sport, damit verursache ich statistisch gesehen weniger Gesundheitskosten.Das ist schlecht für BIP und Wachstum, denn es fallen dadurch weniger Gesundheitskosten an.
BekleidungKaputte Kleidungsstücke repariere ich oder betreibe Upcycling. Wenn ich doch kaufe schaue ich zuerst bei Second Hand oder kaufe doch hochwertige Produkte, die lange halten.Das ist schlecht für BIP und Wachstum, weil ich dadurch nicht ständig neue Kleidung kaufe.
Elektronik und andere WarenHier wird zuerst die Frage gestellt, ob eine Neuanschaffung überhaupt notwendig ist. Denn man kann Dinge lange nutzen bzw. reparieren. Bei Neuanschaffungen werden Second Hand Anbieter geprüft und das funktioniert bei Elektronik mittlerweile sehr gut. Ebenso legen wir Wert auf fachgerechtes Recycling und forcieren Lösungen der Kreislaufwirtschaft.Das ist schlecht für BIP und Wachstum, weil wir Investitionen nicht tätigen oder wenn erst verzögert.
MobilitätMein letztes eigenes Auto habe ich 2019 verkauft. Es gibt in unserem Haushalt nur noch ein Fahrzeug, dass für das Unternehmen und privat von zwei Personen genutzt wird und solange wie möglich betrieben werden soll. Unser Ziel ist es, kein Auto mehr zu haben, aber das dauert noch. Das bestehende Fahrzeug fährt elektrisch und wird mit Strom von der eigenen PV-Anlage betrieben. Die Fahrten werden klug kombiniert um den Fahraufwand möglichst gering zu halten. Zudem nutze ich im Dorf hauptsächlich das Fahrrad oder gehe zu Fuß zum Einkaufen. Auf Dienstreisen sind öffentliche Verkehrsmittel (alle bis auf das Flugzeug) in Anwendung. Nicht-autozentrierte Mobilität ist sehr schlecht für BIP und Wachstum. Hier wird das Dilemma sichtbar: Wir fallen raus aus dem Leasing – Neuanschaffung – Zyklus. Damit wird weniger produziert, weniger finanziert. Elektroautos sind zudem wartungsärmer. Ich muss nicht regelmäßig zu einer Tankstelle fahren, wo unter immensem Aufwand und Umweltschäden, Treibstoff zum ineffizienten Verbrennen, bereit gestellt wird. Sondern der Strom kommt von der Sonne. Zu Fuß gehen oder Radfahren sind zudem gesundheitsfördernd und reduzieren damit statistisch gesehen langfristig Krankheitskosten. Die Priorisierung des öffentlichen Verkehrs senkt den Ressourcenverbrauch.
EnergieerzeugungErneuerbare Energien sind sehr, sehr schlecht für BIP und Wachstum. Durch sie fällt der riesige Aufwand für die Ausbeutung fossiler Energieträger mit all seinen Umweltschäden und Gefahren für die Menschen weg. Die Transporte der Energieträger und die Verteilung fällt ebenso weg. Mit dem Ersatz von fossilen Energieträgern werden zudem die Umweltschäden reduziert und die Gesundheit der Menschen verbessert sich. Zudem können die Bauteile nachher recycelt werden. Erneuerbare Energien sind sehr, sehr schlecht für BIP und Wachstum. An diesem Thema werden die Veränderungen besonders gut sichtbar. Die PV-Module, der Speicher und Komponenten, wie Wechselrichter, Steuerung etc. müssen einmal hergestellt werden, liefern aber Energie auf Jahrzehnte. Und das nicht nur für Strom, sondern auch für Wärme und Mobilität. All dass ohne das ständig neue Brennstoffe erzeugt und hinzugefügt werden müssen.

Erneuerbare Energien als BIP Killer

Sie sehen an diesen Beispielen, eine andere Lebensweise als die des bedingungslosen Wachstums kann sehr entspannt und hochwertig sein. Es geht um ein Umdenken, denn besonders erneuerbare Energietechnologien sind ein regelrechter BIP-Killer. Ja, die Technologien müssen erzeugt werden und sind damit im BIP erfasst. Aber anschließend liefern sie über 20-30 Jahre freie Energie. Und wenn wir den Strom selbst verbrauchen, scheint dieser in keiner Statistik auf. Dadurch, dass der Eigenverbrauch innerhalb der Gebäude in vielen Fällen nicht vom Netzbetreiber erfasst wird, sinkt zwangsläufig das BIP. Bei einer Person macht das keinen großen Effekt, aber bei Millionen Anlagen schon. 

Die neuen Zeichen der Zeit

Wie man sieht, ist der Versuch der Bemessung der wirtschaftlichen Leistung und des Wohlstands eines Landes, nicht ganz fehlerfrei. Deshalb haben Ökonomen und Regierungen zusätzliche Indikatoren und Maßnahmen entwickeln, um ein umfassenderes Bild der Wirtschaft und vor allem des Lebensstandards zu erhalten.Die Vereinten Nationen haben beispielsweise die Initiative Beyond GDP gegründet und die OECD ermittelt den Better Live Index. Das Recoupling Dashboard kombiniert die vier Kategorien (Umwelt, BIP, Solidarität und eigene Befähigung). Die Auswertungen für etwa 30 Länder sind sehr spannend zu sehen. 

In Deutschland wird der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI) ermittelt, der neben dem BIP auch noch weitere Kriterien, wie den Wert der Hausarbeit oder Schäden durch Luftverschmutz berücksichtigt. Länder, wie Finnland, Island, Neuseeland oder Kanada, arbeiten mit dem Wellbeing Index. Dieser hat den Anspruch die Wirtschaft nachhaltiger umzugestalten. 

Veränderung ist nötig – auch beim BIP

Diese Beispiele sind ein guter Anfang, zeigen aber noch immer die wirtschaftliche Dominanz. Denn in den Medien wird immer nur das Wirtschaftswachstum und das BIP erwähnt, die zusätzlichen Indikatoren gehen in der Diskussion häufig unter.

Besonders sind rasche Richtungsänderungen in Punkto Klimakrise nötig. Denn hier gibt es schon viele Ansätze, aber die konsequente Berücksichtigung der Folgen fossiler Energieträger findet nicht statt. Diesbezüglich freue ich mich schon auf die nächste #RestartThinking Fokus Folge. 

Ich durfte Angela und Jens Hanson von Save Climate.Earth interviewen. Die Beiden haben die Idee der Klimawährung ECO (Earth Carbon Obligation) entwickelt. Und das System berücksichtigt die Emissionen fossiler Energieträger ab der Förderung und bietet eine soziale Alternative für die Menschen und damit auch für die Wirtschaft um die notwendige Veränderung rasch voran zu treiben. 

Was meinen Sie? Wenn Ihnen der Blog gefallen hat, verteilen Sie ihn gerne weiter, denn es braucht andere Sichtweisen und Messgrößen für eine lebenswerte Zukunft. 

#RestartThinking
Veränderung. Denken. Können. 

Herzliche Grüße
Marlene Buchinger


Marlene Buchinger, MSc.

Expertin für Klimatransformation und Nachhaltigkeit, Projektentwicklerin und Problemlöserin

Wir von Buchinger|Kuduz sind spezialisiert auf Strategie-, Prozess- und Klimatransformation. Mit mehr als 15 Jahren internationaler Erfahrung im Bereich Erneuerbare Energie stehe ich Ihnen als Sparringpartnerin zur Verfügung und analysiere beispielsweise Energiemanagementsysteme oder Treibhausgasbilanzen um Einsparungsmöglichkeiten rasch und effizient umsetzen zu können.

Quellen und weiterführende Informationen:

  1. Großartige Reportage des Deutschland Funk über die Geschichte des Bruttoinlandprodukts und des Wirtschaftswachstums
  2. Deutschland Funk Artikel über alternative Wirtschaftsindikatoren
  3. Interview mit Vertreter:innen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und der Oxford University über mögliche alternative Systeme
  4. Studie „Mismeasuring Our Lives: Why GDP Doesn’t Add Up“ Sen Amartya, Jean Paul Fitoussi and Joseph Stiglitz, Harvard University, 2010
  5. Studie „Recoupling Economic and Social Prosperity“ Katharina Lima de Miranda, Dennis J. Snower, University of California, 2020